Gesundheitsperspektiven in der Arbeitslosigkeit
Alina Büyükdag und Dr. Monique Faryn-Wewel
Alina Büyükdag
Alina Büyükdag und Dr. Monique Faryn-Wewel diskutieren (digitale) Wege, um die Gesundheit von arbeitslosen Menschen auch über Teilhabe und institutionelle Veränderungen zu fördern.
Erschienen in der Fachzeitschrift “Forum Sozial” in der Ausgabe 03/2023
Der Beginn einer Arbeitslosigkeit bringt durch den Verlust von Einkommen und Partizipationsmöglichkeiten enorme Auswirkungen für das Leben von Betroffenen mit sich. Gleichzeitig haben arbeitslose Menschen im Vergleich zu Erwerbstätigen erhöhte Gesundheitsprobleme (Kroll et al. 2016, S. 228). Arbeitslosigkeit ist demnach ein wichtiger Einflussfaktor für die psychische und physische Gesundheit (Paul und Zechmann 2019, S. 488 493). Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen zählt arbeitslose Menschen zu den sozial benachteiligten Gruppen, die einen speziellen Präventions- und Gesundheitsförderungsbedarf haben (GKV-Spitzenverband 2023, S. 44). Die arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung geht aber über die reine Krankheitsverhütung und das Stärken von Gesundheitsressourcen hinaus: Sie zielt auch darauf ab, die Beschäftigungsfähigkeit der Betroffenen zu erhalten oder wiederherzustellen (Hollederer 2021, S. 24).
Herausforderungen des Setting- oder Lebensweltansatzes in der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung
Weil die Lebenssituation, die Ursachen der Arbeitslosigkeit sowie der Gesundheitszustand der Betroffenen sehr heterogen sind, birgt die Umsetzung Herausforderungen: Die Gruppe eint zunächst „nur“, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Insgesamt unterscheiden sich arbeitslose Menschen nach Alter, Geschlecht, Schul- und Berufsbildung, Berufsverläufen und Karrieren, Wohnort, sozialer Lage und Familienstand, Nationalität und vor allem auch nach der Dauer der Arbeitslosigkeit und der Wahrscheinlichkeit, wieder Beschäftigung zu finden. Gesundheitsbezogene Interventionen sind bei heterogenen Zielgruppen schon grundsätzlich schwierig, weil unterschiedliche Bedarfe oft unterschiedliche Methoden erfordern. Dass Arbeitslose kaum bis gar nicht in Institutionen eingebunden sind, macht es zusätzlich noch schwerer, sie überhaupt zu erreichen (Kirschner 2021).
Die gesetzliche Grundlage für Präventionsmaßnahmen findet sich im § 20 SGB V und beinhaltet Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten. Dieser Setting- oder Lebensweltansatz berücksichtigt regionale Situationen, gleiche Lebenslagen, gemeinsame Werte und formale Organisationen, welche die Zielgruppe arbeitslose Menschen gemeinsam haben und deren Gesundheit beeinflussen (Hartung und Rosenbrock 2022). „Die Setting bezogene Arbeit […] soll gewährleisten, dass sich Menschen, insbesondere auch aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, durch die gemeinsam entwickelten Maßnahmen angesprochen fühlen“ (Lampert et al. 2019, S. 162). Anders als bei vielen anderen Bevölkerungsgruppen stellt sich jedoch bei arbeitslosen Menschen die Frage der Erreichbarkeit. Der seitens der WHO propagierte Setting-Ansatz (1986), die Menschen gesundheitlich dort zu erreichen, wo sie leben, lieben, lernen, spielen oder arbeiten, greift bei arbeitslosen Menschen nicht, weil diese klassische Lebenswelt und damit Zugangswege für Prävention und Gesundheitsförderung fehlen (Faryn-Wewel 2021).
Das Projektbeispiel portALO und seine partizipativen Perspektiven
Das Präventionsgesetz stärkt seit 2015 die sektorenübergreifende Zusammenarbeit. So kooperieren seit 2023 gesetzliche Krankenkassen, Jobcenter, Agenturen für Arbeit und kommunale Partner*innen im bundesweiten Programm teamw()rk, um Arbeits- und Gesundheitsförderung miteinander zu verzahnen. Hier sind Angebote vor Ort entstanden sowie auch digitale Angebote über die Website portALO[1], die wir als Team Gesundheit GmbH bereits 2021 aufgrund der Corona-Pandemie entwickelt haben und fortlaufend weiterentwickeln. Es gibt hier Angebote wie Live-Workshops, Podcasts, Selbstlernmodule und Quiz zu Themen wie Ernährung, Stressmanagement und Ressourcen oder Bewegungsmanagement in verschiedenen Sprachen (z. B. Türkisch und Russisch) und die Möglichkeit, sich in Chaträumen auszutauschen. Diese Möglichkeit wird regelmäßig in fast jedem Live-Workshop genutzt. Über diese Funktion werden Austausch und Teilhabe ermöglicht und Feedback zu den Angeboten gegeben.
Um eine zielgruppenspezifische Perspektive einzunehmen, haben wir bereits mehrere Befragungen durchgeführt. Die Zielgruppe selbst sowie auch die Multiplikator*innen – also sozialpädagogische Begleitkräfte aus Jobcentern, Agenturen für Arbeit oder Kommunen –wurden nach inhaltlichen Wünschen und Bedarfen in Bezug auf Zeit und Ort sowie zur technischen Handhabbarkeit von portALO und dessen Nutzen und Grenzen befragt und die Angebote daraufhin angepasst. Insgesamt betrachten die Befragten portALO als einen Mehrwert. Allerdings wurden Personen, die nicht an den Angeboten teilnehmen, mit der Befragung nicht erreicht. Ihre Meinung ist jedoch bedeutsam für die Entwicklung der Angebote, denn es könnte Gründe für eine Nicht-Nutzung geben.
Multiplikator*innen als Schlüssel zur institutionellen Veränderung
Um erfolgreich zu wirken, sollten Interventionen der Gesundheitsförderung, Prävention und Partizipation immer auf zwei Ebenen stattfinden: Auf individueller Ebene kann Gesundheit als Thema verortet und das Gesundheitsverhalten positiv beeinflusst werden (Verhaltensprävention). Auf der Makroebene werden Veränderungen der Lebensbedingungen angestrebt (Verhältnisprävention). Wie bereits ausgeführt, gibt es bei Arbeitslosen nicht „die eine“ Lebenswelt, die alle vereint. Wir sehen aber eine Chance darin, die Gesundheitskompetenz in den Institutionen der Arbeitsförderung zu etablieren: Hier braucht es Multiplikator*innen, die Gesundheitsangebote unterbreiten können (Faryn-Wewel 2009)
Mit JobFit (www.jobfit-ansatz.de) existiert bereits seit knapp zwanzig Jahren beim Team Gesundheit ein Multiplikatorenkonzept, das Mitarbeitende in der Arbeitsförderung auf zwei evaluierte Interventionen fokussiert: Motivierende Gesundheitsgespräche und den Präventionskurs „Und keiner kann’s glauben – Stressfaktor Arbeitslosigkeit“. Beide Interventionen vereinen Methoden der Sozialen Arbeit mit Erkenntnissen aus den Gesundheitswissenschaften. In Einzelberatungen und Gruppenarbeit werden kognitiv behaviorale Elemente und multimodales Stressmanagement auf ressourcenorientierter salutogenetischer Grundlage vermittelt. Multiplikatoren aus der Sozialen Arbeit verfügen bereits über ein hohes Wissen an relevanten Einflussfaktoren auf die (psychische) Gesundheit arbeitsloser Menschen. Für uns bieten sie aktuell einen der erfolgversprechendsten Zugänge – insbesondere, wenn Aspekte der Freiwilligkeit und der institutionellen Niederschwelligkeit sowie das Vertrauensverhältnis förderlich ausgestaltet ist.
Ausblick: Was wir als Team gerade diskutieren
Trotz der Bemühungen erleben wir ein Phänomen, das unter dem Begriff Präventionsdilemma bekannt ist: Erreicht man nur die, die ohnehin „wenig“ Bedarf haben?! Wie gelingt es zukünftig, innerhalb der breiten heterogenen Zielgruppe arbeitsloser Menschen die besonders vulnerablen Personengruppen zu erreichen – also zum Beispiel Menschen, die sehr isoliert leben, sich aus
Scham oder anderen Gründen nicht mit dem Etikett „arbeitslos“ identifizieren wollen? Soziale Teilhabe und soziale Unterstützung sind ebenso relevante Aspekte wie Möglichkeiten und Grenzen der digitalen Gesundheitsförderung: Wird Digitalisierung und künstliche Intelligenz die Schere in der Gesundheitskompetenz (im Wissen, Verstehen und Anwenden) zwischen sozialen
Schichten zukünftig vergrößern oder verringern? Welche Erkenntnisse gibt es bereits und wie können wir über portALO und mithilfe von Multiplikator*innen die digitalen Möglichkeiten nutzen und/ oder besser mit analogen Angeboten verschränken? Wie kann Arbeits- und Gesundheitsförderung noch nachhaltiger und partizipativer sein? Eine umfangreiche Bedarfs- und Bedürfnisanalyse mit Berücksichtigung verschiedener Variablen – wie Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status und Herkunft – könnte eine Gesundheitsförderung noch zielgruppenspezifischer und wirksamer gestalten lassen.
[1]: 2021 durch den Bereich Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung der Team Gesundheit GmbH entstanden; siehe für weitere Informationen Online-Beiträge der Team Gesundheit GmbH auf der Website www.gesundheitliche-chancengleichheit.de
Faryn-Wewel, Monique (2009): Gesundheitsförderung nach dem JobFit-Ansatz, in: Bellwinkel Michael (Hg.): JobFit NRW. Ein Modellprojekt zur
Implementierung gesundheitsfördernder Maßnahmen in die Regelstrukturen der Arbeitsmarktpolitik unter Beteiligung der Gesetzlichen Krankenkassen, Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW, S. 17–22.Faryn-Wewel, Monique (2021): JobFit als Ansatz zur Gesundheitskompetenzförderung arbeitsuchender Menschen: Prävention in arbeitsmarktnahen Settings 2003 bis 2020, in: Hollederer, Alfons (Hg.): Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen, Frankfurt am Main: Fachhochschulverlag, S. 414–430.
Gerlinger, Thomas (2021): Präventionsgesetz, in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hg.): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden, [online] https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-I092‑3.0 [abgerufen am 03.07.2023].
GKV-Bündnis (o.D.): Menschen mit besonderem Bedarf in der Kommune, [online] https://kurzelinks.de/r67u [abgerufen am 03.07.2023].
GKV-Spitzenverband (2023): Leitfaden Prävention, [online] https://kurzelinks.de/kov8 [abgerufen am 03.07.2023].
Hanewinkel, Reiner/Wewel, Monique/Wibirg, Gudrun/Carsten, Stephan (2006): Motivierende Gesundheitsgespräche mit Arbeitslosen. Akzeptanz und Ergebnisse einer Beratung zur Verbesserung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen, in: Das Gesundheitswesen 68/2006, S. 240−248.
- Hartung, Susanne/Rosenbrock, Rolf (2022): Settingansatz–Lebensweltansatz, in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hg.): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden, [online] https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i106 2.0 [abgerufen am 03.07.2023].
Hollederer, Alfons (2021): Gesundheit und Krankheit von Arbeitslosen sowie Chancen und Grenzen arbeitsmarktintegrativer Gesundheitsförderung, in: Hollederer, Alfons (Hg.): Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen, Roßdorf: TZ Verlag & Print GmbH, S. 12–34.
Kirschner, Wolf (2021): Maßnahmen zur Gesundheitsförderung von Arbeitslosen im Rahmen des SGB V – Möglichkeiten, Grenzen, Verbreitung und Evidenz, in: Hollederer, Alfons (Hg.): Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen, Roßdorf: TZ Verlag & Print GmbH, S. 103–116.
Kroll, Lars Eric/Müters, Stephan/Lampert, Thomas (2015): Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit. Ein Überblick zum Forschungsstand und zu aktuellen Daten der Studien GEDA 2010 und GEDA 2012, in: Bundesgesundheitsblatt 59/2016, Berlin und Heidelberg: Springer-Verlag, S. 228–237.
Lampert, Thomas/Hoebel, Jens/Kuntz, Benjamin/Waldhauer, Julia (2019): Soziale Ungleichheit und Gesundheit, in: Haring, Robin (Hg.): Gesundheitswissenschaften, Berlin und Heidelberg: Springer-Verlag, S. 155–164.
Paul, Karsten/Zechmann, Andrea (2018): Arbeitslosigkeit und Gesundheit, in: Haring, Robert (Hg.): Gesundheitswissenschaften, Berlin und
Heidelberg: Springer-Verlag, S. 1–11.Tielking, Knut (2019): Partizipation, Teilhabe und Gesundheit, in: Haring, Robin (Hg.): Gesundheitswissenschaften, Berlin und Heidelberg: Springer-Verlag, S. 423–431.
WHO – Weltgesundheitsorganisation (1986): OttawaCharta für Gesundheitsförderung, [online] https://kurzelinks.de/78xx [abgerufen am 03.07.2023].
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Wir
gestalten
Ihr
individuelles
Angebot.
Und keiner kann´s glauben – Stressfaktor Arbeitslosigkeit
Typische Stressoren in der Arbeitslosigkeit, wie finanzielle Nöte, gesellschaftlicher und familiärer Druck, fehlende Kontakte zu Kolleg:innen werden oftmals zu psychischen Herausforderungen. Der Kurs greift diese Aspekte auf und nutzt bewusst den Gruppenkontext in der Auseinandersetzung.
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JobFit Plus
Die Fortbildung „Mehr Sicherheit im Umgang mit psychische belasteten Arbeitslosen“ zielt zum einen auf die Erhöhung der fachlichen Kompetenzen durch Wissensvermittlung und zum anderen auf die Erarbeitung konkreter Handlungshilfen für den sichereren Umgang mit psychisch belasteten Menschen
JobFit Extra
Fördern Sie durch diese Schulung Ihre eigene seelische Widerstandfähigkeit und ermöglichen Sie damit den Transfer von Ihnen selbst auf die Resilienzförderung Ihrer Kundinnen und Kunden.
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Resilienzförderung für Arbeitslose
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Dem Schweinehund auf der Spur
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Das sind wir!
Wir sind ein interdisziplinäres Team mit unterschiedlichen Professionen, wie Psychologie, Sportwissenschaften, Diätassistenz, sozialer Arbeit, Gesundheitswissenschaften und vielen weiteren Kompetenzen. Mit unserer breit gefächerten Expertise und unserer langjährigen Praxiserfahrung in der Gesundheitsförderung arbeitsloser Menschen stehen wir Ihnen unterstützend und beratend zur Seite.
Geleitet wird unser Team von Frau Dr. Faryn-Wewel, welche bei der Konzeptionierung, Evaluation und Durchführung der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung seit vielen Jahren eine maßgebende Rolle einnimmt.