Nach Covid-19: Verspüren arbeitslose Menschen eine digitale Müdigkeit?
Jan Liebig — Werkstudent Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung
Digitale Gesundheitsförderung für arbeitslose Menschen – Eine Interviewstudie mit der Zielgruppe
25.07.2024
Langzeitarbeitslosigkeit bringt für Betroffene häufig viele Herausforderungen mit sich, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken können¹. Um dem gesetzlichen Auftrag der Gesundheitsförderung in allen Lebenswelten nachzukommen², wurden in den letzten 10 Jahren Wege entwickelt, um auch arbeitslose Menschen mit Angeboten der Gesundheitsförderung zu erreichen³. Zuletzt wurden zusätzlich digitale Angebote entwickelt⁴, um der stark heterogenen Zielgruppe auch während der Covid 19 Pandemie Angebote unterbreiten zu können. Diese werden nach wie vor angeboten. Angesichts reduzierter Inanspruchnahme stellt sich jedoch die Frage, ob digitale Wege der Gesundheitsförderung nach der Hochphase der Covid-19 Pandemie für arbeitslose Menschen noch bedarfsgerecht sind und wie sie aus der Sicht der Zielgruppe gestaltet werden müssten.
Hierzu wurden fünf leitfadengestützte Interviews⁵ mit langzeitarbeitslosen⁶ Menschen per Telefon durchgeführt. Die Teilnehmenden mussten mindestens ein Jahr arbeitslos sein, Bürgergeld oder Arbeitslosengeld beziehen und volljährig sein. Die Interviews wurden vollständig transkribiert und sprachlich geglättet⁷ und anschließend mithilfe des offenen Codierens der Grounded Theory⁸ ausgewertet. Kenntnis des digitalen Angebotes portALO⁹ wurde explizit nicht vorausgesetzt. PortALO ist ein digitales Internetportal für arbeitslose Menschen sowie Mitarbeitende der Arbeitsförderung des Porgramms teamw()rk. Hier werden für die Zielgruppe Podcasts, Videos oder auch E‑Learnings zu verschiedenen Themen der Gesundheitsförderung angeboten. Fachkräfte der Arbeitsförderung können sich über das Programm informieren und vernetzen.
Die Auswahl der befragten Personen erfolgte durch Aufrufe auf PortALO, über Newsletter und über die Mitarbeitenden des Fachbereichs arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung der Team Gesundheit GmbH. Die Altersspanne der befragten Personen lag zwischen 35 und 65 Jahren, wobei vier der Befragten über 50 Jahre alt waren. Drei der fünf Befragten identifizierten sich als männlich. Die Dauer der Arbeitslosigkeit reichte von 20 Monaten bis zu 10 Jahren. Hierfür wurden zum Teil auch gesundheitliche Einschränkungen als Gründe benannt, genau abgefragt wurde dies jedoch nicht. Der genutzte Leitfaden beinhaltete Fragen zu der eigenen Sichtweise auf Gesundheit, Einstellungen und Erfahrungen zu Angeboten der Gesundheitsförderung insbesondere zu digitalen Angeboten und Angebote speziell für arbeitslose Menschen. Weiter wurden die Teilnehmer:innen bezüglich der für sie optimalen Gestaltung und Darstellung solcher Angebote befragt und wie sie beworben werden sollten. Zudem wurden die Befragten animiert die Vor- und Nachteile von Präsenz- und Onlinenageboten gegenüberzustellen.
Ergebnisse
Die anschließende Auswertung wurde anhand von induktiv gebildeten Auswertungskategorien durchgeführt. Diese dienen auch im Folgenden zur Strukturierung dieses Abschnittes.
Bei dem Themenfeld Blick auf Gesundheit wurden den Interviewpartner:innen Fragen zu Ihrer Sichtweise auf Gesundheit gestellt. Es fiel auf, dass sich in diesem Zusammenhang die getroffenen Aussagen in zwei Bereiche unterteilen ließen. Zum einen wurden Aussagen getroffen, die Gesundheit als das Freisein von Krankheit definieren (Pathogenese) und zum anderen Aussagen, die Gesundheit als Zustand empfinden, in welchem sie ein gewisses Wohlbefinden verspüren. Diese Sichtweise entspricht der des Gesundheitsverständnisses nach Antonvskys Modell der Salutogenese¹⁰. Auch wenn alle Teilnehmenden über körperliche oder psychische Beschwerden klagten, verfolgt jede:r präventiv das Ziel die eigene Gesundheit zu verbessern. Einige achteten mehr auf die Ernährung, andere halten sich durch regelmäßige sportliche Betätigungen fit.
Bei der Auswertungskategorie Gesundheitsförderung ging es unter anderem um die Berührungspunkte, die die befragten Personen bereits mit der Gesundheitsförderung gemacht haben. Hierbei wurde nicht nur Angebote des Programms teamw()rk angegeben sondern auch Ernährungskurse einer Krankenversicherung, Angebote zu Bewegung mit Schwerpunkt auf Rücken, oder soziale Angebote wie Coachings. Zudem wurde gefragt, was die Teilnehmenden unter „Professionalität“ im Bereich der Gesundheitsförderung verstehen würden und welche Rahmenbedingungen für die Zielgruppe wichtig seien. Hierbei wurde vor allem die Fähigkeiten der Anbietenden erwähnt. Diese sollen laut der Zielgruppe auf ihrem Gebiet Expertenwissen mitbringen und dieses Wissen auch praxis- und realitätsnah vermitteln können. Zudem sei auch Einfühlungsvermögen in die besondere Lebenssituation der arbeitslosen Menschen wie auch die Erfahrung mit dieser Zielgruppe von Bedeutung. Weiter wurden die Befragten auch dazu interviewt, welche Vorteile sie in Angeboten in Präsenz sähen. Hierbei wurde neben einer Verbindlichkeit auch der Vorteil von sozialen Kontakten und Gruppendynamiken (wie beispielsweise Motivation) angesprochen. Zudem sei es in Präsenz einfacher Feedback zu bekommen, was insbesondere bei Bewegungsangeboten für die Befragten eine große Rolle spielen würde.
Es kamen verschiedene Gesundheitsthemen in den Interviews zur Sprache. Diese deckten sich mit den Handlungsfeldern der Gesundheitsförderung: Mentale Gesundheit, Bewegung, Ernährung und medizinische Vorsorge. Hierbei wurde insbesondere die mentale Gesundheit häufig angesprochen. Das Interesse der Zielgruppe liegt hier bei Stressbewältigung, Umgang mit Rückschlägen, Informationen zu psychischen Erkrankungen, Ängste aber auch Entspannung und Achtsamkeit. Im Bereich der Bewegung wurde insbesondere Gymnastik und Yoga als für die Zielgruppe interessant angegeben. Im Bereich der Ernährung drehten sich viele Aussagen um die Frage, was eigentlich gesunde Ernährung sei. Weiter wurde auch angesprochen, dass auch Angebote zu „Gesund und Günstig“ für die Betroffenen von Interesse wären. Am Themenfeld der Vorsorge seien vor allem die älteren Befragten interessiert. Ihnen gehe es vor allem um die Vorsorgeuntersuchungen. Ferner und auch für alle interessant seien die Themen Schmerzen und Naturheilkunde. Weitere interessante Themen seien zudem Schlaf, Suchtprävention oder auch Tagesstrukturierung. Ein Teilnehmer wies darauf hin, dass ihm die Themen bei Angeboten vor Ort eher nicht so wichtig seien, da es ihm mehr um den Austausch untereinander ginge und ja jede:r etwas zum Thema Gesundheit sagen könne.
Bei der Informationsbeschaffung würden nicht alle Teilnehmer:innen nur das Internet nutzen. Auch Ärzte, die Apothekenumschau, Magazine und Informationsmaterial der Krankenkasse sind für die Zielgruppe Quellen für die eigene Recherche zu Gesundheitsthemen. Jedoch gaben auch alle Teilnehmenden das Internet, insbesondere die Suchmaschinen aber auch YouTube an. Deshalb wurde in der Auswertungskategorie Mediennutzung zunächst erfragt, wie die Zielgruppe Zugang zum Internet habe. Während alle Befragten ein Smartphone besitzen, nutzt ein Teil zusätzlich Computer oder Laptops und Tablets. Das Smartphone sei jedoch für alle ein stetiger Begleiter, mit dem viele und zum Teil sogar alle digitalen Alltagsgeschäfte erledigt werden. Erstaunlicherweise nutzen nur wenig Befragte soziale Netzwerke wie Instagram oder Facebook. Es schien zudem auch Unterschiede in der Mediennutzung der verschiedenen Altersklassen der Befragten zu geben.
Der Fokus dieser Forschung lag auf der digitalen Gesundheitsförderung. Auf die Frage, welche Angebote sie im Bereich der digitalen Gesundheitsförderung bereits genutzt haben, wurden folgende Angebote erwähnt: ADHS Apps, Bewegungsvideos, Audiomeditationen und Social-Media-Kanäle zum Thema Ernährung. Bei den Vorteilen von digitalen Angeboten sahen die Befragten vor allem die örtliche und zeitliche Flexibilität. Es sei von großem Vorteil Angebote dann nutzen zu können, wenn es der eigene Zeitplan zulassen würde. Zudem sei die Nutzung solcher Angebote anonym und findet in der Regel in einem geschützten Rahmen statt. Gleichzeitig seien die technischen Vorrausetzungen sehr unterschiedlich und dies könnte für manche Menschen eine große Hürde darstellen. Auch kritisierten die Teilnehmenden das fehlende Feedback, welches insbesondere bei Bewegungsangeboten sehr wichtig sei. Zudem seien die Angebote häufig nicht zielgruppenspezifisch und nicht individuell genug. Auch Bedenken zum Thema Datenschutz wurde angesprochen. In Anlehnung zu den genannten Vor- und Nachteilen wurde auch die ideale Gestaltung digitaler Angebote angesprochen. Hierbei sei insbesondere Transparenz und die übersichtliche Darstellung wichtig. Zudem sollten sie in verständlicher Sprache angeboten werden, möglichst wenig Fachbegriffe. Während audiovisuelle Formate wie Videos, Podcasts oder digitale Live-Workshops eher den Wünschen der Teilnehmenden entsprechen, sind textbasierte Angebote bei den Befragten eher unbeliebt. Weiter wurde auch über verschiedene Zugangswege diskutiert. Während Angebote im Rahmen von Social-Media weniger interessant wären, könnten sich die Teilnehmenden vorstellen eine App zu nutzen. Auch ein für mobile Endgeräte optimiertes Internetportal ist für die Befragten interessant. Gleichzeitig könnte es jedoch hilfreich sein, die Angebote über Social-Media zu bewerben. Zudem wäre eine Bewerbung der digitalen Angebote über die Berater*innen im Jobcenter hilfreich.
Limitation
Bei der Forschung muss limitierend angemerkt werden, dass die Zielgruppe der Angebote des Programms teamw()rk, und dadurch Grundgesamtheit dieser Forschung, besonders heterogen ist. Wie Büyükdag und Faryn-Wewel feststellen, eint diese Gruppe an Menschen nur das Merkmal Arbeitslosigkeit. Lebensumstände, Ursachen der Arbeitslosigkeit, Gesundheitszustand, aber auch demographische Merkmale dieser Zielgruppe sind sehr verschieden¹¹. Somit ist es schwierig aus dieser Forschung Schlüsse über die gesamte Zielgruppe zu ziehen. Sie kann nur richtungsweisend gedeutet werden und bietet Anhaltspunkte und Ideen für die zukünftige Entwicklung digitaler Angebote für arbeitslose Menschen.
Fazit
Digitale Angebote können eine sinnvolle Ergänzung zu Präsenzangeboten darstellen. Sie ersetzen jedoch keine in Präsenz. Die Befragten interessieren sich auch nach der Covid 19 Pandemie für digitale Angebote. Eine digitale Müdigkeit lässt sich bei den Befragten nicht erkennen, die digitale Welt scheint auch weiterhin eine große Rolle zu spielen. Wichtig ist den Betroffenen, dass die Gestaltung der Inhalte übersichtlich, verständlich und zielgruppenspezifisch sein sollte. Für die Befragten sind alle klassischen Themenfelder der Gesundheitsförderung interessant. Am meisten wurden jedoch Mentale Gesundheit, Bewegung, Ernährung genannt. Auch Informationen zu medizinischer Vorsorge, Schlaf und Suchtprävention wurde von den befragten Personen als potenzielle Themen genannt. In Zukunft sollte insbesondere darauf geachtet werden, dass digitale Angebote die Zielgruppe ansprechen und in der Gestaltung sprachlich so vorgegangen wird, dass die Inhalte verständlich vermittelt werden. Zudem ist es ratsam Angebote so zu gestalten, dass bei den genutzten Beispielen ein Menschenbild gezeichnet wird, welches der Lebensrealität der Zielgruppe entspricht. Eine Identifikation mit den dargestellten Menschen ist zu ermöglichen. Weiter sollte der zukünftige Fokus auf audio-visuelle Medien gelegt werden, Angebote in Textform sind bei der Zielgruppe nicht sehr interessant. Auch wenn das Format des Internetportals den Bedarfen der Zielgruppe entspricht, sprechen sich manche aber auch für das App-Format aus. Dies könnte eine Alternative sein, durch welche möglicherweise auch jüngere Menschen erreicht werden könnten. In jedem Fall ist die Bewerbung durch die Jobcenter und Träger vor Ort notwendig.
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Jan Liebig ist Sozialarbeiter und Student im Masterstudiengang „Gesundheit und Diversity in der Arbeit“ an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Die in diesem Artikel beschriebene Forschung ist Teil der Prüfungsleistung des Moduls „Anwendungsbezogenes Forschungspraktikum“ und wurde unter Begleitung von Frau Dr. Faryn-Wewel (Team Gesundheit) und Frau Prof. Dr. Jünger (Hochschule für Gesundheit) durchgeführt